In 10.000 Meter Höhe über den Wolken – irgendwo über dem Atlantik zwischen Kanada und Europa: Im Flieger ist es dunkel und die meisten Leute schlafen. Ich nicht. Obwohl ich mir wirklich große Mühe gegeben habe, kann ich den Zeitunterschied von läppischen 5 Stunden irgendwie nicht so richtig verpacken. Jede Nacht das gleiche Spiel. Panisches Gehirn an Mel: „Es ist 9 Uhr morgens, Du hast verschlafen und musst dringend zur Arbeit!!! Ich schütte mal schnell ein bisschen Adrenalin aus, Schätzelein. Damit Du auf die Beine kommst.” Hellwache und saure Mel. an Gehirn: „Es ist 4.00 Uhr nachts in Kanada und ich muss jetzt rein gar nichts.” Was soll ich sagen. Mein Gehirn ist stur und weckt mich jede Nacht pünktlich. Da möchte es nicht so gern über seinen Schatten springen. Ich komme mir dabei sehr alt und sehr unflexibel vor. Meine Tränensäcke übrigens auch.
Während wir nun pfeilschnell durch die endlosen Weiten Richtung Europa wieder in die gewohnte Zeitzone sausen, lasse ich die letzten fünf Tage noch einmal an mir vorbeiziehen. Waren das wirklich nur fünf? Mir kommt es irgendwie eher vor wie ein halbes Leben. Unsere kleine Bloggerreisegruppe hat super viel gesehen, mit dem Auto mal eben 1.200 Kilomater in Nova Scotia zurückgelegt, wahnsinnig entspannte nette Leute getroffen und einsame Landschaften quasi aufgesaugt. Wir waren als #blueberrybloggers auf der „Mission Wilde Blaubeeren” – auf Einladung der Kanadischen Blueberry Assosiation.
5 Tage zuvor. Die erste Begegnung mit den wilden Blaubeeren fällt buchstäblich ins Wasser. Der Regen prasselt auf dem Weg zum Blaubeerfeld so stark auf die Windschutzscheiben unserer riesigen schwarzen Vans, dass man für lange Minuten gar nichts mehr sieht. Weder die Straße noch sonstwas. Ab und zu kann man die Scheinwerfer von einem entgegenkommen Auto kurz erahnen – dann herrscht wieder Sintflut. Das passt irgendwie zu dem, was ich bisher von Kanada gesehen habe: wahnsinnig gerade und breite Autobahnen, große Autos, riesige Trucks, gigantische Trailer, endlose Wälder – und ich meine hier nicht den kleinen Spielplatzforst um die Ecke – ich meine WÄLDER. Alles ist mindestens 10 bis 20 Nummern größer, als man es so kennt. Auch der Regen. Wildnis und Urgewalten quasi für ein Frollein aus Mitteleuropa. Es wundert mich kein bisschen, dass hier Bären und Elche regelmäßig zum Gute-Nacht-Sagen an jeder Hintertür vorstellig werden.
Irgendwann stehen wir dann mit den Vans im Nirgendwo auf einem verregneten Feld mit bunten Kisten und kleinen, drahtigen Pflanzen. Endlich … da sind sie! Die wilden Blaubeeren. Irgendwie hatte ich mir die allerdings ganz anders vorgestellt. Ich dachte eher an große, prächtige Büsche, die sich unter der Last von tausenden prallen Beeren biegen. Ich naives Dingen.
Wilde Blaubeeren wachsen nicht als Busch. Sie sind eher das, was man in Deutschland landläufig als Bodendecker bezeichnen würde. Wilde Blaubeeren können außerdem im Gegensatz zu ihren kultivierten Verwandten nicht einfach irgendwo angepflanzt werden. Sie wachsen, wo es am besten für sie ist und man kann sich bisher auch nicht so richtig erklären, warum das genau an einer bestimmten Stelle passiert – und drei Meter daneben eben nicht. Jeder Versuch, Wilde Blaubeeren auszubuddeln und an anderer Stelle wieder einzupflanzen, scheitert. Und weil die kleinen kapriziösen Dinger nicht zu den Blaubeerproduzenten kommen, müssen diese eben zu den Wilden Blaubeeren gehen.
Blaubeerbauern werfen ihr ganzes Können und viel Geduld in den Ring, um ein Feld mit Wilden Blaubeeren zu finden und diese dort dann über lange Zeit behutsam zu vermehren. Das passiert zum Beispiel dadurch, dass man die gerade mal 20 cm hohen Pflanzen nach dem Ende der Erntezeit Anfang September untergräbt. Im nächsten Frühjahr treiben die Wurzeln im Boden dann mehr Triebe, das Blaubeerfeld wird dadurch auf natürliche Weise dichter. Die Pflanzen wachsen dann zwei Jahre, bis sie im übernächsten Jahr wieder geerntet und untergegraben werden. Das kann dann schon mal 10 bis 15 Jahre dauern, bis ein Feld so weit ist, dass es gleichmäßig dicht bewachen ist und lohnend abgeerntet werden kann. Man braucht Sitzfleisch, bis das Feld richtig ertragreich funktioniert. Im Winter freuen sich die Blaubeerbauern übrigens sehr über Schnee – denn der legt sich wie eine isolierende Schicht über die wachsenden Blaubeeren, die sonst einfach erfrieren und sterben würden. Allerdings herrscht in Kanada eher kein Schneemangel – im letzten Winter lagen in Nova Scotia an der Ostküste Kanadas bis zu sechs Meter. Die Leute mussten sich Tunnel aus ihren Häusern graben.
Irgendwann beschliessen wir auf unserem Blaubeerfeld in den Vans, dass der Regen nicht mehr aufhören wird und machen uns auf den Rückweg. Und dann kommt es, wie es so oft ist: der Regen hört doch auf. Einfach so, und die Sonne lugt zu uns herunter. Kurzes Telefongespräch unseres Fahrers mit dem anderen Van – und wir biegen von der Autobahn wieder ab. Jetzt können wir doch noch mit beiden Füßen mitten in einem Blaubeerfeld stehen. Und pflücken und probieren.
Wilde Blaubeeren sind – im Gegensatz zu ihren kultivierten Verwandten mit dunkelblauer Farbe und meist enormer Größe – erstaunlich vielfältig. Auf einem Feld wachsen unterschiedlichste Größen und Farben einträchtig nebeneinander. Man findet kleine, große, hellblau beschlagene, kräftig blau leuchtende oder fast schwarze Beeren.
Ursprünglich wurden die Wilden Blaubeeren mit kleinen Rechen in mühevoll gebückter Haltung von Hand geerntet. In sehr hügeligen Gebieten oder bei stark abfallenden Feldern ist das auch heute noch so. Auf flachen Feldern kommen zusätzlich kleine automatische Pflückmaschinen auf Rädern zum Einsatz, die vom Erntehelfer mit ordentlich Muckis geschoben werden. Da steht dann ein einzelner Mann auf einem Feld irgendwo in Nirgendwo und erntet.
„Some call it the middle of nowhere. Some call it home.”
Größere Maschinen oder Traktoren sind weiterhin eher selten zu sehen. Der Einsatz würde sich für die vielen kleinen regionalen Produzenten mit nur einem Blaubeerfeld auf ihrem Grund auch gar nicht lohnen. Das Ernten von Wilden Blaubeeren ist eine mühsame und anstrengende Arbeit – auch wenn man dabei oft die wahrscheinlich schönste und einsamste Aussicht der Welt genießen kann.
Wir besuchen einen Blaubeerproduzenten, der in seiner Region auch als Sammelstelle für kleine Blaubeerbauern fungiert. Die Blaubeeren werden von Leuten auf ihren unvermeidlichen Pickups vorbeigebracht, in den bunten Leihkisten abgeladen, gewogen und gelagert. Dann werden sie kurz darauf auf Paletten verladen und zusammen zum Sortieren gebracht. 95% der Wilden Blaubeeren gehen dann als Tiefkühlware in alle Welt. 5% der Ernte essen die rund 35 Millionen Kanadier selbst. Oder sie backen Pies – wie wir später noch am eigenen Leib feststellen werden. Oder süße Schnecken. Oder Muffins. Oder sie servieren sie als Soße zum Lachs. Oder auf Salat. Oder wickeln sie mit ein bisschen gerade gefangenem Hummer in ein Reispapier. Hach! Blaubeermania!
Dann geht es noch mal auf´s Feld. Wir treffen Studenten des Dalhousie Agricultural Campus der Universität in Truro, die hier ein Forschungsprojekt zur Anbauverbesserung von Blaubeeren durchführen. Die drei sortieren die Blaubeeren von Hand und dokumentieren den Zustand und die Qualität. Das Ziel des Projekts ist es, den Ertrag des Feldes mit natürlichen Mitteln zu optimieren und mehr über die Wilden Blaubeeren zu lernen. Da das Feld erstaunlich plan ist, kann man hier auch zur Abwechslung mal mit einem Trecker die Blaubeeren pflücken. Die Studenten freuen sich offensichtlich sehr über unseren Besuch und unser Interesse, wir plaudern ein bisschen und machen gegenseitig (!) ziemlich viele Fotos. Und essen natürlich angemessen viele Blaubeeren.
Es macht total Spaß, die kleinen blauen Dinger von der Hand in den Mund abzuernten. Jede hat einen leicht anderen Geschmack – süß oder herber, frisch oder vollreif. Und jedes Feld schmeckt ein kleines bisschen anders. Das kann man übrigens prima feststellen, wenn man sich hemmungslos durch die Kisten der verschiedenen Blaubeerbauern probiert. Ächem.
Irgendwann müssen wir wieder in unsere Riesenautos klettern – die knapp zweistündige Rückfahrt und das Abendessen warten. Ich bin total gespannt, was uns in den nächsten Tagen erwartet, was wir alles noch essen, erleben und wen wir kennenlernen werden. Ich ahne zu dem Zeitpunkt noch nicht, dass ich einen Koch im Kilt, eine uralte Morse-Spezialistin sowie ziemlich viele Hummer treffen und mir den Zeh brechen werden. Aber davon soll ein anderes Mal erzählt werden.
Sieht total super aus Mel. Aber eine Frage stellt sich mir: Wieso hat der eine Herr ein Handtuch auf dem Kopf?
Ich vermute gegen den Regen oder gegen die Mücken. Irgendetwas aus diesem Doppelpack muss es sein, Katarina :-D
Liebe Mel, wundervolle Bilder! Sieht nach einem wahnsinnig tollen Erlebnis aus. Alles Liebe aus Wien, Julia
Wow, sehr spannend. Mir war bisher noch nicht mal klar, dass es wilde Blaubeeren in so einem Ausmaß gibt, dass sie sich ernten und vertreiben lassen. Spannend. Danke für die tollen Fotos. Und auf den Zeh-Bericht bin ich gespannt. Du Arme!
Lg Haydee
Wirklich spannend und tolle Bilder, ich lese so Reiseberichte immer gern!
Aber eine “kritische” Frage (wird vielleicht sowieso noch in den nächsten Post beantwortet) habe ich: gibt es die kalifornischen Blaubeeren bei uns überhaupt zu kaufen bzw. sind dann da nicht eher einheimischere auf dem Markt und auch unter umweltgesichtspunkten sinnvoller?
Ist sonst schon ein bisserl gemein von der “one and only” Blaubeergeschmackserlebnis zu sprechen, wenn man hier gar nicht drankommt ;-)
Aber sonst muss man wohl dorthin urlauben, sieht wirklich traumhaft aus.
Hallo Barbara, die einheimischen kultivierten sind in der Saison sicherlich (hoffentlich) Co2-sensibler. Wenn man allerdings rund um das Jahr auf TK-Blaubeeren zurückgreift, stammen diese aus alles Welt. Die meisten Anbieter mischen Blaubeeren und weisen nicht aus, wo diese herkommen. Bei EDEKA gibt es allerdings tatsächlich sortenreine Wilde TK-BLaubeeren, die nur aus Kanada (nicht Kalifornien) stammen. Liebe Grüße! Mel.
Meeelllll..was für tolle Bilder und Eindrücke..danke das DU mich zurück nach Kanada holst
mel, die bilder sind so toll. ganz große blaubeer-buddies-vermissung hier. <3
XO!
nic
Ich gehe selber jeden Herbst wilde Blaubeeren pfücken. Das man diese aber auch im großen Stil anbauen kann und sogar maschinell erntet war mir aber neu. Dachte immer das gäbe es nur bei den weniger geschmackvollen Kulturheidelbeeren.
Ich glaube ich hätte mich vor Ort kiloweise aus diesen Kisten bedient :)
Da muss man ja ein bisschen aufpassen, Martin. Wegen .. ähhh … Schlumpfkacke :-D
Super, danke für den Tipp mit Edeka Mel.
Werde ich gleich mal suchen :-)
Und sorry für den vertipper- kalifornien war glaub ich nur ein Freudscher Vertipper aufgrund derm Grau in grau bei uns draußen vor dem Fenster…
Danke für diesen schönen Bericht! :)
Sag mal, weißt Du zufällig, ob diese wilden Blaubeeren in Kanada normalerweise irgendwie gespritzt werden? Also Pestizide, Herbizide usw.?
Soviel ich weiß, gibt es einen Blabeerpilz oder -schimmel, der, wenn er auftritt, behandelt werden muss, weil sonst das gesamte Blauberfeld nachhaltig abstirbt. Kanadische Blaubeeren wachsen immer wild und da wo sie wollen. Es findet also keine intensive Kultivierung oder eine An- bzw. Nachpflanzung statt. Aber wenn sie krank sind, werden sie entsprechend behandelt.