Verflixt! Mein Rock weht mir schon wieder bis zur Hüfte hoch. Energisch versuche ich, das widerspenstige Dingen in den Griff zu bekommen. Uff! Gerade liegt alles wieder ordentlich und keusch kniebedeckend, da kommt die nächste Heißluftfön-Windböe angesaust und unterspült den Stoff … Ich gebe die Marilyn über dem U-Bahn-Schacht. Leider ungewollt. Es ist Mistral in Frankreich und ich habe einen sehr weiten Rock angezogen. Eine ausgesprochen dumme Idee – ich muss es zugeben.
Der extrem warme und kräftige Dauer-Wind ist typisch für den Sommer in Südfrankreich und kommt direkt aus Afrika angerauscht. Für die Franzosen natürlich alles ganz normal – für eine winderprobte Hamburgerin trotzdem eine mittelgroße Überraschung. Endlich habe ich den Stoff fest im Griff und lasse ihn auch nicht wieder los. So, Wind, geh woanders spielen. Zum Beispiel auf den Oberflächen dieser riesigen Wasserbecken, die unsere kleine Reisegruppe umgeben.
Wir sind in den Salzgärten der Camargue zwischen Montpellier und Marseille. Wer Salzsalinen noch von Ausflügen mit Oma und Opa nach Bad Oeynhausen kennt und dabei an zehnmeterhohe knorrig-verflochtene Ast-Konstruktionen denkt, wird hier erfreulich überrascht sein. Die Salzgärten der „Compagnie des Salins du Midi“ nahe der kleinen südfranzösischen Stadt Aigues-Mortes (ungefähre Aussprache: Egg-Mogg) sind entzückend anders: Kilometerweite, unendlich erscheinende flache Wasserbecken werden nur von schmalen Erddämmen durchzogen. Und der Knüller: Das Wasser leuchtet kräftig Pink, die Uferbänke sind reinweiß, der Himmel strahlt in einem tiefen dunkelblau. Kurz habe ich das Gefühl, in einem dieser Airbrush-Fantasy-Poster gelandet zu sein, die man Ende der 80er in der Bravo bestellen konnte. Wenn jetzt noch ein Einhorn vorbeigeschlendert käme würde das ganz prima in die Szenerie passen. Aber da ist ja noch dieser Mistral, der den durchaus realistischen Geruch von Salz, Meer und Mineralien durch die Landschaft peitscht. Und der Laster, der mit einem Kran gerade einen mehrere hundert Kilo schwerer Sack mit Salz auf die Ladefläche befördert. Alles ganz echt also.
Hier wird gerade hart gearbeitet. Ein Dutzend junger Männer steht in einem der Becken am schneeweißen Uferrand und schaufeln mit reiner Muskelkraft etwas ganz besonderes zu stattlichen rosafarbenen Pyramiden: Fleur de Sel – die Blume des Salzes. Die Salzernte ist in vollem Gange.
Nur wenige Wochen im Jahr kann das Fleur de Sel geerntet werden. Dafür sind mehrere Monate akribische Vorarbeit, Planung und ungeheuer viel Erfahrung der Salzbauern – der „Paludier“ – notwendig. Die Salzgewinnung basiert auf dem, was die Natur gibt: Meerwasser, Sonne und Wind. Das Meerwasser wird durch ein weit verzweigtes Kanalsystem in riesige flache Becken unweit des Meeres geleitet und verdunstet dort monatelang durch Wärme und Luftbewegung. Ab und zu kommt etwas neues Meerwasser hinzu – die Paludier ermitteln auf Basis jahrelanger Erfahrung und genauer Beobachtung, wann wie viel zugeleitet werden muss. Das passiert individuell pro Becken über kleine hölzerne Schleusen. Und nur, wenn die Temperatur dann hoch genug, der Salzgehalt des Wassers ideal und der Mistral in der richtigen Menge dazugekommen ist, passiert etwas ganz besonderes: das Fleur de Sel setzt sich ab Mitte Juli in großen Kristallen auf der Wasseroberfläche ab und weht zu sogenannten „Salzblumen“. Diese natürliche Art der Salzgewinnung im Zusammenspiel mit der Natur wurde schon von den Römern praktiziert. Es gab auch Ernten, bei denen das Wetter nicht mitgespielt hat und das Fleur de Sel sich nicht bilden wollte. Aber in diesem Jahr läuft es perfekt: Die jungen Männer schaufeln immer neue rosafarbene Fleur-de-Sel-Pyramiden ans Ufer.
Ach ja, das Rosa. Die Salzgewinnung aus Meerwasser läuft gänzlich ohne die Zugabe von irgendwelchen anderen Stoffen ab. Das macht die hohe Qualität, den Geschmack und die vielen natürlichen Spurenelemente im Fleur de Sel aus. Das unglaublich Pink im Wasser bildet sich ebenfalls auf ganz natürliche Art: Wenn das Meerwasser des Atlantik frisch in die Salzbecken eingeleitet wird, hat es einen Salzgehalt von 29 Gramm pro Liter. Durch die Verdunstung steigt der Salzgehalt des Wassers kontinuierlich an. Eine klitzekleine Mikro-Alge, die zu 80% aus Beta-Karotin besteht, liebt den hohen Salzgehalt und vermehrt sich unten diesen für sie idealen Bedingungen rasant. Irgendwann sind dann kurz vor der Salzernte so viele Algen im Wasser, dass es wunderschön pink leuchtet. Der Salzgehalt des Wassers liegt dann übrigens bei 260 Gramm pro Liter.
Aber die kleine Beta-Karotin-Alge ist nicht nur für die tolle Farbe des Wassers verantwortlich. Winzige Krebse fressen die pinkfarbene Alge besonders gern. Und vermehren sich dementsprechend gut. Das finden Vögel ganz wunderbar und nutzen die Salzbecken als Naturreservat mit endlosem Futternachschub. Eine Vogelart profitiert ganz besonders von den Algen und Krebsen: Flamingos. Sie fressen die Krebse, die wiederum die Algen gefressen haben – und dadurch färbt sich ihr Gefieder attraktiv pink. In der Camargue kann man unter anderem die afrikanischen Flamingos beobachten, die mit ihrer Größe von bis zu 1,70 Meter ganz erstaunliche Erscheinungen sind. Wenn eine Gruppe Flamingos vom Boden abhebt und sich in den azurblauen Himmel schwingt, ist das ein großartiger und unvergesslicher Augenblick …
Auch das frisch geerntete Fleur de Sel bringt einen zarten, rosafarbenen Schimmer mit. Und verrückterweise einen wunderbar intensiven Veilchenduft! Der Feuchtigkeitsgehalt des Salzes liegt nach der Ernte bei 20%. Man kann es dann sofort in der Küche verwenden. Für den Export muss der Feuchtigkeitsgehalt allerdings auf 2% reduziert werden. Dafür lagert das Fleur de Sel ein Jahr lang in großen, luftdurchlässigen Säcken. Danach wird es ohne weitere Produktionsverfahren abgefüllt und z.B. als „Fleur de Sel Le Saunier de Camargue“ in den bekannten runden Pappschächtelchen mit Korkdeckel verkauft.
Nach der Fleur-de-Sel-Ernte gibt es aber noch eine ganze Menge Salz in den Becken – rund 10 cm dick hat es sich auf dem Boden abgelagert und funkelt wie ein Schneefeld in der Sonne. Ab Mitte August wird es geerntet und kommt dann als natürlich gewonnenes Meersalz z.B. als „Sel de Mer Baleine“ in verschiedenen Körnungen und Varietäten den Handel.
Nicht weit von unserem pinken Fleur-de.Sel-Becken entfernt, lernen wir aber noch einen weiteren Verwendungszweck kennen: Imposante weiße Hügel leuchten uns schon aus der Ferne entgegen – Salzhalden! Hier lagert das Salz, das für einen ganz anderen Einsatz bestimmt ist: verschneite und vereiste Straßen auf der ganzen Welt. Bei mindestens 30 Grad im Schatten eine der Halden zu besteigen, ist nicht ganz unanstrengend. Ich raffe meinen Rock an jeder Seite windfest zu einer handlichen Rolle und erklimme Schritt für Schritt den Salzberg. Die Sonne brennt und ich bin richtig froh, mal wieder mein berühmtes dünnes Allzwecktuch aus der Tasche zaubern und über Kopf und Schultern legen zu können. Einen gefühlten Marsch durch die Sahara später, gibt es die Belohnung: Von hier oben hat man einen wunderbaren Ausblick über die Salzseen und die Landschaft der Camargue.
Etwas später geht es wieder zurück ins das zauberhafte und trubelige Städtchen Aigues-Mortes. Darüber, über ein köstliches Menü mit Fleur de Sel und über ein Strand-Picknick im Nirgendwo soll aber ein anderes Mal erzählt werden.
PS: Wer selber einmal den wunderbaren Ausblick über die Camargue genießen und die Salzsalinen oder die Salzernte besuchen will, kann im Besucherzentrum eine Tour buchen und mit einer kleinen Bimmelbahn das Gebiet erkunden. Als angemessene Bekleidung empfehle ich dabei unbedingt Hosen, ne. Und wer gerne leckere Rezepte mit Fleur de Sel ausprobieren möchte, wird unter anderem hier fündig.
PPS: Ein großes Dankeschön an die Compagnie des Salins du Midi für die Einladung und Möglichkeit, die Salzgärten zu besuchen und Einblicke in den Salzanbau zu erhalten Und natürlich für die Geduld, endlose Fragen zu beantworten.
Leave a Comment