GourmetGuerilla Küchenfliesen

Team Säuger – deine Mutter! Oder: Der Mann, Jerry und die braune Papiertüte.

„Me-heeel, kannst du mal eben kommen?“ Der Mann ruft mich aus seinem Arbeitszimmer und irgendetwas an seinem Tonfall ist eindeutig seltsam. „Klar doch!“ Ich schwinge mich von der Couch und mache mich auf den Weg. 30 Sekunden später finde ich den Mann: Er steht mitten im Zimmer und hält mit beiden Händen eine braune Papiertüte seltsam weit von sich weg. „Ich bin so froh“, bricht aus ihm heraus, „ich habe keinen Gehirntumor!“

Öhm. Das kam jetzt etwas … unvermittelt. Ob ihm die braune Papiertüte gerade wirklich diese unfassliche Botschaft vermittelt hat? Die meisten schizophrenen Erkrankungen beginnen ja bekanntlich mit Stimmen aus dem Klo. Aber sprechende Papiertüten? Am besten stimme ich erstmal freundlich zu. Und sondiere dann vorsichtig weiter die Lange. „Darüber sind wir natürlich alle sehr froh, Schatz!“, versichere ich ihm mit strahlendem Pflegerinnenlächeln. „Aber … wie kommst du da jetzt so … ähm … spontan … drauf?“ Der Mann streckt mir die braune Tüte entgegen. „Guck mal“, sagt er.

Ich gucke vorsichtig in die Tüte. Ich kneife die Augen zusammen. Ich gucke noch mal. Mein Herz schmilzt! In der Tüte sitzt zwischen zusammengeknülltem Altpapier eine winzigkleine braune herzallerliebste Maus. Die guckt uns aus kleinen schwarzen Knopfaugen an und blinzelt. Und – mein Gott – sie hat sogar lange Wimpern! „Ach herrje!“ Ich bin von den Socken. „Sowas Süßes habe ich ja noch nie gesehen. Wo kommt die denn her?“ Die Maus würde garantiert jeden internationalen Nager-Schönheitswettbewerb in der Kategorie „2-3 Zentimeter“ gewinnen. „Keine Ahnung, vielleicht ist sie durch die offene Wohnungstür reingehuscht, als ich den Müll runtergebracht habe“, vermutet der Mann. Und dann erzählt er, dass er seit drei oder vier Abenden ständig seltsame Bewegungen aus den Augenwinkeln gesehen habe.  Aber wenn es dann genauer hinschaute, war da nie etwas. So realistisch und extrem sei das gewesen, dass er heimlich schon auf die Idee verfallen sei, dass er einen das Sehvermögen angreifenden Gehirntumor habe. Jetzt ist der Mann erleichtert. Und hält glücklich die braune Papiertüte.

„Ja was machen wir denn jetzt mit dir“, frage ich die Maus mit leicht debiler Dutzi-Dutzi-Stimme. „Wir könnten dich Jerry nennen und behalten … in einem kuscheligen Käfig.“ Ich habe Ideen. „Mel, das ist ein Wildtier.“ Der Mann bringt mich auf den Boden der Tatsachen zurück. „Ich bringe sie rüber in den Park, damit sie es schön hat. Und nicht zurückfindet. Sie ist ja auch ein Säuger.“ Ich muss schmunzeln. Der Mann spielt auf eine Szene aus dem Film „Per Anhalter durch die Galaxis“ an, die wir beide ganz besonders mögen: In einer langen Warteschlange mit den unglaublichsten intergallaktischen Spezies wird Arthur Dent schließlich von einem gelangweilten Registrierungs-Beamten gefragt: „Sind Sie Säuger?“ Klar sind wir hier Team Säuger! Jerry raschelt leise im Papier, als der Mann die Tüte samt Maus behutsam nach draußen trägt. 20 Minuten später ist er wieder da. „Jerry geht es gut“, informiert mich der Mann. Und dann sitzen wir zusammen auf dem Sofa, erzählen uns von dem entzückenden Jerry und freuen uns über unseren verantwortungsvollen Umgang mit Wildtieren.

10 Tage später befinden wir uns im Krieg.

Team Säuger, deine Mutter! Wir naiv-wohlwollenden Großstädter haben es inzwischen mit der ganzen unnachgiebigen Härte der wilden Natur zu tun bekommen. Denn Klein-Jerry war offensichtlich keine verirrte Einzelmaus, sondern ein gut getarntes Gangmitglied. Und als Jerry ging, haben die anderen Gangmitglieder offenbar beschlossen, dass es sich doch trotzdem ganz kuschelig Party machen lässt bei diesen schrulligen Leuten. Ganz ohne Käfig.

Zuerst haben sie eine halbe Käsestulle verdrückt, die mit Plastikfolie abgedeckt in der Küche stand. Und dann haben sie MEINEN SCHÖNSTEN KORKUNTERSETZER zernagt. Machen wir uns nix vor – hier ist kein Hunger mehr im Spiel. Das ist blanke Zerstörungswut. Weil es Spaß macht. Und mit dem Spaß ist es jetzt eindeutig vorbei. Jerrys Hausbesetzer-Kumpels müssen weg. Wir haben inzwischen auch durch schlau angelegte und getarnte Beobachtungsaktionen (absolut unbewegliches Herumsitzen in abgedunkelten Räumen) herausgefunden, wo die Gang sich Zutritt verschafft: durch einen kleinen Spalt unter der Fußleiste im Wohnzimmer. Perfide!

Es ist der erste ernsthafte Mausbefall in unserem Leben. Und inzwischen wissen wir, dass nur noch die ganze Härte des dominanten Säugers helfen kann. Zum Beispiel in der Gestalt des grauhaarigen Schädlingsbekämpfers (auf Englisch Exterminator!), der mit einem beeindruckenden Metallkoffer voller Gift-Schächtelchen unsere Wohnung betritt. Während er mit größter Gemütsruhe in allen Räumen seine Fressfallen aufstellt, schildere ich ihm unser ganzes Leid. Und unseren Plan, alle Räume mit zusätzlichen Fußleisten hermetisch zu versiegeln. „Ach, wo wollen sie denn da anfangen?“, hamburgert der Koffer-Mann. „Das ist ja ein Altbau … über 100 Jahre alt. Und Mäuse brauchen nur ein pfenniggroßes Loch, um überall reinzukommen.“ Pfenniggroß? Mir wird schwach. Mein Blick mäandert über Fußböden, Türrahmen, Fliesenspiegel … da ein winziges Loch, ein kleiner Spalt, ein Löchlein … . Offenbar leben wir seit 13 Jahren in einem riesigen Schweizer Käse! „Aber machen Sie sich da mal keine Sorgen. Da sind sie nicht die einzigen, wenn es draußen kalt wird. Das ist ganz normal. Und das ist in ein paar Tagen erledigt“, verspricht Mr. Koffer. Ich glaube dem Terminator mit Erfahrung. Aber die zusätzlichen Fußleisten kommen trotzdem dran. Gleich fahren der Mann und ich in den Baumarkt und kaufen Leisten und mehrere Hektoliter Schnellzement. Den werde ich dann in jede Kleinstfuge pressen. Ich überlasse unsere Wohnung nicht kampflos dem Mäuse-Mob! Ha!

Mir ist allerdings ziemlich mulmig bei dem Gedanken, dass wir mit Gift arbeiten, um die Mäuse loszuwerden. Ich finde das absolut unschön. Aber wir haben keine andere Wahl. Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben einen umfangreichen Sagrotan-Vorrat angelegt und wische damit ständig in der ganzen Wohnung herum. Das kann so nicht bleiben.

Warum haben wir eigentlich schon wieder so ein entzückendes Zusatz-Projekt im Advent? Letztes Jahr hatte ich ja Kühlschrank-Gate. Naja, irgendwas ist ja bekanntlich immer. Aber immerhin haben wir keinen Gehirntumor und die Wohnung mit der größten Fußleistendichte in Hamburg. Das ist doch auch schon eine ganze Menge. Gleich geh ich Glühwein kaufen.

Cheers!