Gluten Sensitivity: Phantom oder Fakt?

{Mini-Serie Gluten} Über Diagnose-Odysseen, goßartige Zufälle und das Leben mit Glutenunveträglichkeit: ein Interview mit einer Betroffenen – Kooperation

Teil 2: Dagmar Gaebler ist eine ungeheuer vitale und energiegeladene Person – das merke ich sofort, als wir uns begrüßen. Wir haben uns zu einem Gespräch über Glutenunverträglichkeit verabredet. Von ihr möchte ich jetzt aus erster Hand erfahren, wie Betroffene mit der Erkrankung umgehen. Mit ihrem sympathischen Berliner Akzent erzählt sie mir von ihrer Situation, der langwierigen Diagnose, den Herausforderungen des Alltag, wie radikal sich ihr Leben durch glutenfreie Ernährung geändert hat und was sie von der Politik in Hinblick auf Gluten erwartet.

Liebe Frau Gaebler, wie lange besteht bei Ihnen jetzt die Glutenunverträglichkeit?

Ich habe wohl schon seit mindestens 5 Jahren die Glutenverträglichkeit. Aber diagnostiziert wurde sie erst vor ungefähr 1,5 Jahren. Das hat ewig gedauert.

Woran haben Sie denn damals gemerkt, dass da etwas nicht stimmt?

Wissen Sie – ich hatte ja damals gar kein Leben mehr. Ich hatte 7 bis 10 Mal am Tag schweren Durchfall, der mich in den unpassendsten Situation überraschte. Ich hatte irgendwann richtig Panik, das Haus zu verlassen, da ich ständig Angst hatte, dass es gleich wieder losgeht. Und dann finden Sie mal innerhalb von Minuten eine Toilette. Ich kannte damals quasi jede öffentliche Toilette in Berlin und habe mir für alle Fälle sogar einen Schlüssel für die Behindertentoiletten besorgt.

Das klingt wirklich überaus unangenehm! Die Einschränkungen, die Sie dadurch hinnehmen mussten, waren bestimmt enorm …

Ja sicher. Mein Mann und ich konnten nicht mehr Essen gehen oder Veranstaltungen besuchen. Kino, Theater – das konnte ich alles nicht mehr machen. Stellen Sie sich mal vor, Sie sitzen im Theater und mitten in der Vorstellung müssen Sie fluchtartig die Toilette aufsuchen. Erst kämpfen Sie sich panikartig durch die Reihen nach draussen und dann stehen sie vor der Tür und können nicht mehr rein. Wir haben das nach und nach aufgegeben. Dazu sah ich ständig aus, als ob ich schwanger wäre. Mein Bauch war ganz aufgetrieben und sehr druckempfindlich. Ich passte damals gar nicht mehr in meine Garderobe und habe irgendwann nur noch weite Kleidung gekauft – so Walla-Walla-Gewänder. Es war ganz schrecklich!

Was haben denn Ihr Mann und Ihre Familie dazu gesagt?

Das war natürlich großer Stress für die ganze Familie. Ständig hatte ich diese Beschwerden. Aber ich muss sagen, dass mein Mann das ganz toll mitgemacht hat. Der war nie sauer, sondern hat große Rücksicht darauf genommen. Sorgen gemacht hat meine Familie sich natürlich schon sehr.

Sind sie denn damals sofort zum Arzt gegangen und was konnte der für sie tun?

Ja, ich war wegen der Beschwerden beim Arzt. Das war eine richtige Odyssee. Zunächst wurde mir empfohlen, auf Fructose und Laktose zu verzichten. Das habe ich gemacht, aber es wurde langfristig nicht besser. Es folgten mehrere Darmspiegelungen, bei denen nichts festgestellt wurde. Irgendwann lautete die Diagnose dann auf Reizdarm. Man nahm an, dass die Beschwerden keine organischen, sondern psychische Ursachen hätten. Mein Mann war damals schwer erkrankt und deshalb lag diese Vermutung wohl nahe. In der ganzen Zeit waren aber meine Beschwerden da. Ich habe dann irgendwann nur noch sehr unregelmäßig gegessen, weil ich merkte, dass das ganze irgendwie doch mit der Nahrung zusammenhängen müsse. Dadurch ging es mir natürlich zusätzlich nicht gut. Wenn man den ganzen Tag nichts isst, um so womöglich die Durchfälle zu vermeiden, ist man ja auf Dauer sehr schwach. Das führte soweit, dass ich Frührentnerin wurde.

Gluten Sensitivity: Phantom oder Fakt?

Sie wurden aufgrund der Beschwerden berentet?

Ja. Ich hatte zwei Besuche beim Amtsarzt. Ich war ja immer krankgeschrieben und konnte nicht arbeiten. Dabei mochte ich meine Arbeit so gern – ich war damals in einer Gaststätte angestellt und liebte den Kontakt mit den Gästen. Mein Chef war sehr verständnisvoll, aber auf Dauer ist das ja kein Zustand. Der Amtsarzt hat dann aufgrund einer diffusen Darmkrankheit der Frühberentung zugestimmt. Von da an war ich zu Hause.

Und wie wurde dann doch noch die Glutenunverträglichkeit festgestellt?

Wissen Sie was – das war ein reiner Zufall. Ich wollte mir bei meinem Hausarzt ein Rezept für Schmerztabletten ausstellen lassen. Der war aber im Urlaub und die junge Vertretungsärztin wollte mir die Schmerzmittel aufgrund der Menge und Dosierung nicht verschreiben. Sie bat mich ins Sprechzimmer, schaute sich meine Akte an, ließ sich meine Leidensgeschichte noch einmal schildern und sagte dann „Haben Sie schon einmal etwas von Glutenunverträglichkeit gehört?” Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt noch nie etwas darüber gehört. Aber seit diesem Moment wurde alles besser.

Was haben Sie daraufhin gemacht?

Zunächst habe ich auf das Anraten der Ärztin so gut es ging auf glutenhaltige Nahrungsmittel verzichtet. Die Beschwerden wurden dadurch tatsächlich besser. Dann war in der Klinik und da wurde nachgewiesen, dass ich glutenunverträglich bin. Mit einer Ernährungsberaterin habe ich im Anschluss gelernt, in welchen Nahrungsmitteln Gluten enthalten ist, was ich essen kann und welche Produkte ich ich meiden muss. Ich bin so froh, dass ich damals die Hilfe der Ernährungsberaterin hatte! Ohne sie hätte ich mich unendlich schwer getan, das alles selber in Erfahrung zu bringen. Ich kann jedem mit Unverträglichkeiten nur empfehlen, auf jeden Fall professionelles Wissen in Anspruch zu nehmen. Damit wird alles so viel leichter.

Wie hat die glutenfreie Ernährung sich dann bei Ihnen bemerkbar gemacht ?

Der Effekt der glutenfreien Ernährung war sofort da, die akuten Beschwerden haben unmittelbar nachgelassen. Nach einigen Wochen fühlte ich mich insgesamt viel besser, konnte wieder regelmäßig essen und musste nicht mehr ständig Toiletten aufsuchen. Und die Walla-Walla-Gewänder konnte ich nach einiger Zeit auch wieder ad acta legen (schmunzelt). Meine Kinder und mein Mann waren sehr froh, dass es mir so viel besser ging.

Was hat sich im Alltag durch die Ernährungsumstellung seitdem für Sie verändert? Müssen auf vieles verzichten?

Ich kann wieder ein ganz normales Leben führen und muss eigentlich gar nicht auf so viele Dinge verzichten. Wenn ich nachmittags eingeladen bin, nehme ich mir meinen glutenfreien Kuchen mit. Das kennen meine Bekannten inzwischen und das ist ganz normal geworden. Im Restaurant kann ich Gemüse, Fleisch und Fisch oder Salat bestellen. Wichtig ist nur, dass da keine Nudeln, Brot oder gebundene Soßen dabei sind. Das klappt ganz gut. Mein Mann kocht gern und ist inzwischen ein richtiger Experte für glutenfreies Essen geworden. Für warme Gerichte, die wir beide essen, verwendet er spezielle glutenfreie Produkte. Wenn er glutenfrei backt, essen wir auch beide davon. Für das Frühstück kauft er aber weiterhin sein normales Brot und seine normale Wurst, während ich eben mein spezielles Brot habe. Beim Metzger meines Vertrauens muss ich immer fragen, ob Wurstwaren ohne Gluten hergestellt sind – das hat bis jetzt immer gut geklappt. In bestimmten Supermärkten ist die Wurst in den Frischetheken sogar schon gekennzeichnet. Das ist für mich sehr praktisch.

Es sind ja einige Lebensmittelprodukte in den Supermärkten inzwischen gekennzeichnet. Hilft Ihnen das im Alltag?

Ehrlich gesagt ist die Kennzeichnung manchmal etwas verwirrend. Es gibt so viele verschiedene Siegel auf Lebensmitteln – auch gerade bei den Bio-Produkten. Häufig werden die Glutenfreien nämlich mit in das Bio-Regal eingeordnet. Ich kann das zwar nicht verstehen, weil die beiden Themen ja nicht unbedingt etwas miteinander zu tun haben. Aber für die Mitarbeiter in den Läden scheint das logisch zu sein. Daher ist es mir auch hin und wieder schon passiert, dass ich ein falsches Produkt erwischt habe. Ich merke das immer sofort daran, dass die Bauchschmerzen und Verdauungsstörungen wieder anfangen. Dann mache ich mich direkt in der Küche auf die Suche und schaue mit alle Produkte nochmal sehr genau an, bis ich den Übertäter gefunden habe. Ich habe auch schon mal die Supermarktleitung auf die ungünstige Platzierung im Regal angesprochen – aber die war nicht sehr begeistert von meinem Vortrag (schmunzelt wieder).

Interview Glutenunverträglichkeit

Was sollte sich Ihrer Meinung nach im Zusammenhang mit glutenfreier Nahrung denn noch verbessern oder anders werden?

Ach, da gibt es so viel! Zuallererst wünsche ich mir, dass die Leute anfangen, Glutenunverträglichkeit nicht als Marotte oder als Spleen zu betrachten, sondern als ernstzunehmende Erkrankung. Denn daran ist gar nichts albern oder affig – im Gegenteil. Außerdem habe ich das Gefühl, dass gerade die älteren Ärzte sich da noch etwas mehr weiterbilden müssten. Man hört doch hin und wieder, dass Glutenunverträglichkeit als Einbildung bezeichnet wird oder das Ärzte diese Diagnose erst gar nicht in Betracht ziehen.

Außerdem wünsche ich mir, dass die richtigen Informationen zu Gluten in der Gesellschaft präsenter werden. Auch gerade für die Teenager! Sie glauben gar nicht, wie oft ich junge Mädchen vor den glutenfreien Produkten im Supermarkt sehe. Die stehen dann da und sagen: „Guck mal, das ist glutenfrei. Damit hat Lady Gaga gerade 15 Kilo abgenommen. Das kaufen wir.” Das finde ich schrecklich! Manchmal lasse ich mich dann hinreißen, spreche die Mädchen an und erkläre Ihnen den Zusammenhang mit Glutenunverträglichkeit. Die sind dann immer ganz erstaunt, dass sie das vorher nicht wussten.

Soll ich Ihnen was sagen? Ich bin deswegen sogar extra in eine Partei eingetreten, weil ich denke, dass man das Thema auch in die politische Arbeit mit einbeziehen muss. Aber von der Basis aus hat man natürlich nicht so große Chancen, da direkt etwas zu bewegen. Manche der Mitglieder sind auch genervt, wenn ich wieder mit meinem Spezialthema um die Ecke komme. Aber das ist mir egal – ich bringe das immer wieder auf den Tisch.

Was könnte die Politik denn im Zusammenhang mit Glutenunverträglichkeit erreichen?

Wissen Sie, es gibt so viele Menschen, die auf glutenfreie Produkte angewiesen sind, sich diese aber einfach nicht leisten können. Denken Sie zum Beispiel an Harz-4-Empfänger. Oder Kinder mit Zöliakie in sozialschwachen Familien. Die können nicht mal eben pro Person 200,– Euro mehr im Monat für glutenfreie Ernährung ausgeben. In anderen Ländern gibt es von den Krankenkassen Zuschüsse für diese Ernährungsform. Das möchte ich in Deutschland auch erreichen. Gerade Kinder mit Glutenunverträglichkeit haben es nicht einfach. Wir haben in unserem Umfeld eine Familie mit zwei an Zöliakie erkrankten Kindern. Es ist wahnsinnig schwierig für die Familie, die Ernährung der Kinder zu finanzieren. Mein Mann und ich wollten die Familie gern unterstützen und haben mit viel Aufwand und Engagement erreicht, dass die Familie von der Behörde einen Zuschuss für das Essen bekommt. Das sollte einfacher gehen. Mein Mann und ich engagieren uns weiter dafür.

Frau Gaebler, ganz herzlichen Dank, dass Sie sich die Zeit für dieses Gespräch genommen haben. Ich wünsche Ihnen weiterhin sehr viel Kraft und Energie, um die Ziele, die Sie sich gesetzt haben, zu erreichen. Ich bin sicher, sie werden noch einiges bewegen.

Frau Gaebler und ihr Mann haben den gemeinnützigen Verein Spender mit Herz e.V gegründet, der benachteiligte Menschen unterstützt und engagieren sich in diesem Zusammenhang auch für Menschen mit Glutenunveträglichkeit.

Info: Diese Mini-Serie wird unterstützt von Dr. Schär, dem Spezialisten für glutenfreie Ernährung.

 

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